Die Klagen über das „Dilemma der Rockmusik“ und „die Dauerkrise des Genres – Dinosaurisierung, Rückwärtsgewandtheit, Bedeutungsverlust“ sind eine gern praktizierte Übung im modernen Feuilleton. Wie sehr diese Statements aber auf blanker Unkenntnis der aktuellen Rockszene basieren könnten, zeigten unlängst wieder mal zwei Artikel in der ZEIT ↑ und auf Spiegel Online ↑, in denen einer der üblichen Londoner Hypes namens „Black Midi“ als innovativ und als potentielle Retter der Rockmusik angepriesen wurden.
Wer vertrackte E-Gitarrenmusik mag, ist bei der besagten Band durchaus gut aufgehoben. Allerdings ist ihr Sound dermaßen tief in den 1980er Jahren verankert, bei The Fall, The Pop Group, Wire, The Feelies etwa, dass man von moderner, innovativer Rockmusik bitte nicht sprechen sollte. Black Midi haben den „Spirit“ des 80er-Jahre-Gitarren-Undergrounds verinnerlicht, was durchaus legitim ist, aber sie fügen ihm nichts Neues hinzu.
Die Rockmusik findet heute in kleinteiligen Szenen statt, in denen sich eine unglaubliche Menge von talentierten Bands tummelt. Sich damit zu beschäftigen, ist sicherlich mühevoll, aber aller Anstrengungen wert. Wer einen Gang durch den aktuellen Underground wagt, begegnet immer wieder Bands, deren Wurzeln man durchaus hört, die aber etwas ganz Eigenes daraus gemacht haben und machen.
Dieses „Eigene“, schwer zu definierende Element guter aktueller Rockmusik, findet sich z.B. auf dem selbstbetitelten Debütalbum von Rosalie Cunningham ↑, die wohl mit ihrer einstigen Band „Purson“ ihre Ideen nicht angemessen umsetzen konnte. Und dementsprechend ist auch ihre erste Platte ausgefallen – Rockmusik mit einem gewissen Sixties-Flair ja, aber berstend voll mit Ideen und tollen Melodien, dass es eine wahre Freude ist. Spielt man diese Platte dreimal hintereinander ab, hat man das Gefühl, drei Platten gehört zu haben. Der Spaß beim Hören von Songs wie „Ride On My Bike“ oder „Fuck Love“ nutzt sich so schnell nicht ab …
Auch der Band Kikagaku Moyo ↑ aus dem Tokioer Underground hört man ein gewisses Faible für die 1960er Jahre an, deren Duft aber schnell verfliegt, wenn die FreakFolk-Melodien mit zirpender Sitar auf unnachahmliche Weise umschlagen in verwehten Gespenster-Rock oder wütende Noise-Rock-Eruptionen. Ihre aktuelle Platte „Masana Temples“ bringt ihren musikalischen Kosmos zum ersten Mal so richtig auf den Punkt. Auch diese Platte mit Stücken wie „Dripping Sun“ und „Gatherings“ hört man mehrmals hintereinander und man kann nie genug davon bekommen …
Ein Spaziergang im Underground endet oft bei der Düsseldorfer Band Vibravoid ↑, von denen auf dieser Plattform schon diverse Beispiele zu hören waren. Die ungemein produktive Band hat mit ihrem Album „Vibrations From The Cosmic Void“ einen Höhepunkt ihres Schaffens kreiert, der ein mehrmaliges Hören geradezu erzwingt. Wer sich auf die zahlreichen langen Stücke einlassen kann, fühlt sich anschließend so wie ein Astronaut, der sich – nach monatelangem Aufenthalt auf der ISS – in Baikonur aus seiner Kapsel schält und erstmals wieder festen Boden betritt. Ein irres Gefühl, das von den kürzeren Stücken aber noch einmal übertroffen wird. „The Modular System“ und die neue Single „World Of Pain“ sind vergleichsweise rockende Stücke Vibravoid-Musik, die zeigen, dass die Band sich immer noch weiterentwickelt. Unglaublich! 🙂
(Erstveröffentlichung 23.09.2019 auf www.dj-night-jever.de ↗)